"Pflege ist das wichtigste gesundheitspolitische Thema in diesem Jahrzehnt", sagte Andreas Westerfellhaus, als er Mitte April in sein Amt als Pflegebeauftragter der Bundesregierung eingeführt wurde. Wie seine Strategien angesichts des Pflegenotstands mit mehreren Zehntausend unbesetzter Stellen in der Kranken- und Altenpflege aussehen, sagte er "Leben!" im Interview.
Herr
Westerfellhaus, wo manch einer mit 61 Jahren an den wohlverdienten Ruhestand
denkt, haben Sie einen Job angenommen, an den kaum erfüllbare Erwartungen
gestellt werden: Pflegekräfte finden und zwar möglichst viele. Was reizt Sie an
Ihrem neuen Amt?
Zum ersten Mal ist ein Vertreter der Profession Pflege für dieses Amt angefragt worden und das habe ich als deutliches Signal vernommen: Die Expertise der Vertreter des Berufes wird endlich wahrgenommen. Da kann man nicht nein sagen! Und ob die Erwartungen zu erfüllen sind - das werden wir sehen. Ich würde nicht für etwas antreten, was unmöglich ist.
36.000
Stellen sind laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit in der Kranken- und
Altenpflege derzeit unbesetzt. Der Pflegereport der Bertelsmann Stiftung prognostiziert
bis 2030 sogar 500.000 fehlende Stellen. Wie wollen Sie dieses Problem in den
Griff bekommen?
Wir müssen
uns endlich von diesen Zahlengerüsten lösen. Wir brauchen in allen Sektoren
sehr viel mehr professionell Pflegende - das ist unbestritten. Und das ist
nicht allein mit 8.000, 80.000 oder 200.000 neuen Pflegekräften zu beantworten.
Für ein Gesundheitswesen von morgen müssen wir die Prozesse, die Abläufe und
die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufen und Bereichen angehen. Es
geht um eine sichere qualifizierte Patientenversorgung und dafür müssen wir in
neuen Strukturen denken.
Wie könnten
diese aussehen?
Ich spreche
hier die Autonomie der Berufsausübung der Pflegenden im Zusammenspiel mit
anderen Berufsgruppen wie den Ärzten an: Wer kann was wo in geeigneter Form an
Leistung erbringen? Wenn wir zu einem gestaffelten Leistungssystem in den
ambulanten wie den stationären Sektoren im Zusammenwirken verschiedener
Professionen kommen, dann werden wir auch zu ganz anderen Lösungen gelangen. Es
darf nicht um Ideologien von Berufsgruppen gehen. Das ist eine schwierige
Aufgabe, die wir sicherlich in drei Jahren nicht erledigt haben.
Ein längeres
Projekt also. Wie kann es denn möglichst schnell zu ersten Verbesserungen für
Patienten und Pflegebedürftige kommen?
Diese
Negativspirale, dass Pflegekräfte aufgrund schlechter Rahmenbedingungen in
Teilzeit oder ganz aus dem Beruf gehen, muss endlich gestoppt werden, weil wir
wirklich jeden dringend brauchen, sonst steht die ambulante und stationäre
Versorgung auf dem Spiel. Kurzfristig werden wir attraktive Anreize setzen
müssen - zum Beispiel finanzielle -, um diejenigen, die sich von dem Beruf
bereits verabschiedet haben, wieder zurückzugewinnen. Aber das wird nur
fruchten, wenn wir gleichzeitig lang- oder mittelfristige Signale setzen, wie
sich die Rahmenbedingungen dauerhaft verbessern können.
Sprechen Sie damit auch Träger von Einrichtungen
an, die Gehälter zu erhöhen?
Naja, ich kenne die reflexartige Reaktion der
Träger, die dann entgegnen: Ja, machen wir natürlich gerne solange die
Kostenträger uns diese Kosten erstatten. Auf der anderen Seite wird derzeit in
einer personellen Notsituation viel Geld für das Abwerben von Pflegenden und Leasingkräfte
ausgegeben, was die Unternehmen viel, viel teurer kommt als festangestellte
Mitarbeiter.
Die Berufe
der Kranken- und vor allem der Altenpflege haben kein besonders gutes Image.
Was muss passieren, dass sie wieder aufgewertet werden?
Wir haben ein
gutes Image! Im Ranking der vertrauenswürdigen Berufe stehen Pflegende seit vielen
Jahren nach den Feuerwehrleuten an zweiter Stelle. Die Pflegenden selber
kritisieren möglicherweise vielmehr dieses fehlende Image als es von außen
zugeschrieben wird. Das heißt aber nicht, dass sich die Rahmenbedingungen nicht
ändern müssten. Nach wie vor entscheiden sich viele junge Menschen für einen
Pflegeberuf. Häufig werden sie allerdings schon während der Ausbildung
ernüchtert, weil sie die Aufgaben, für die sie vorbereitet werden, nicht
ausführen können oder weil sie merken, dass der Personalmangel schon während
der Ausbildung durchschlägt. Das ist Lernzeit und keine Arbeitszeit. Junge
Menschen müssen die Begleitung bekommen, die notwendig ist, um den Beruf
anschließend verantwortungsvoll auszuüben.
Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer, hat gewarnt, Auszubildende würden durch die geplante Neuregelung des Pflegeberufegesetzes und den damit einhergehenden Anforderungen eines Studiums "Medizin light" "abgeschreckt" und "überfordert".
Eine Pflegeausbildung, ganz gleich, ob generalistisch, herkömmlich oder akademisch, ist kein "Medizin light". Pflege ist Pflege und keine Medizin und Pflegende wollen keine Mediziner werden. Professionelle Pflege erfordert professionelle Kompetenzen und diese muss man erwerben. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die Anforderungen in der Anwendung von pflegerischen Leistungen, von evaluierten, wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Verwendung neuer Techniken, dem Hinzukommen der Digitalisierung und der Telematik massiv verändert. All dem müssen die Berufstätigen gerecht werden. Ich höre immer noch in vielen Einrichtungen, dass hochqualifizierte Pflegekräfte nach wie vor mit bürokratischen Aufgaben und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten überlastet werden. Für die Zukunft brauchen wir ein gesamtes Bildungskonzept für pflegerische Leistungen: von der Pflegeassistenz über die generalistische Ausbildung, über Fort- und Weiterbildung bis zu akademischen Bildungsangeboten - dann wird ein Schuh draus. Nur die dreijährige generalistische Ausbildung in den Blick zu nehmen, ist auf Dauer viel zu kurz gedacht.
Das Stichwort Digitalisierung möchte ich gerne aufgreifen.
Schließlich gibt es im Gesundheits- und Pflegemarkt schon erste Einsatzgebiete.
Inwiefern sind Assistenzsysteme ein Ausweg aus dem Dilemma der mangelnden
Pflegekräfte?
Wenn es darum geht, mit digitalen Lösungen
Menschen Unterstützung zu bieten, damit sie sich zum Beispiel im eigenen Zuhause
sicher fühlen, ist das sinnvoll. Digitale Lösungen sind aber immer nur im
Zusammenspiel mit qualifizierten pflegerischen Leistungen von professionellen
Pflegekräften zu sehen und niemals als Ersatz.
Bleiben wir bei der Altenpflege: Etwa 70 Prozent
der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt und gut die Hälfte von ihnen
durch Angehörige - das entspricht einerseits dem Wunsch vieler Menschen, ist
aber auch eine finanzielle Frage. Viele haben schlichtweg Angst, sich die
eigene Pflegebedürftigkeit nicht leisten zu können. Was können Sie ihnen entgegnen?
Ein Sozialstaat, der zu Recht von seinen
Bürgerinnen und Bürgern ein Leben lang erwartet, in die Solidargemeinschaft einzuzahlen,
muss auch Antworten liefern. Ich weiß, dass diese Angst, pflegerische
Leistungen stünden nicht zur Verfügung, existiert. Das müssen wir sehr ernst
nehmen.
Welche Perspektiven gibt es?
Die Angebote müssen weiter verbessert werden.
Dabei geht es um mehr Transparenz in der Aufklärung des gesamten Themas Pflege,
aber auch um Prävention, Rehabilitationsmaßnahmen und ein flächendeckendes
kompetentes Netz an professionell Pflegenden im Netzwerk einer gesamten
Versorgungskette - übrigens auch im Zusammenspiel mit Angehörigen. Sie sind als
größter ambulanter Pflegedienst Deutschlands ja bereit, die Leistungen zu
erbringen, aber dann brauchen sie die Unterstützung professionell Pflegegender und
andere Möglichkeiten der Entlastung wie Prävention und Rehabilitation. Und wenn
sie solche Maßnahmen in Anspruch nehmen, und sich dazu entscheiden, den zu
pflegenden Angehörigen in eine Kurzzeitpflege zu geben, dann müssen sie sich
auch darauf verlassen können, dass diese hochqualifiziert ist.
Sie kommen aus der Praxis, haben Krankenpflege
gelernt und jahrelang in der Ausbildung gearbeitet. Würden Sie sich heute für
den Beruf noch einmal entscheiden?
Ja, selbstverständlich! Ich habe wie die meisten
von uns damals eine klassische Krankenpflegeausbildung gemacht und erst im
Laufe der Jahre gemerkt, welche Facetten dieser Beruf bietet. Je nach meinen jeweiligen
Neigungen und Interessen bin ich mal rechts und mal links abgebogen, um neue
Impulse zu bekommen. Man kann seine Bereiche finden und eine ganze Menge
erreichen in der Pflege - was ich in einem anderen Beruf sehr vermissen würde.
Was konkret würden Sie vermissen?
Der Einsatz für und die Kommunikation mit Menschen
war für mich immer ein ganz besonders wichtiger Aspekt. Und heute bin ich in
einer beruflichen Situation, in der ich versuchen kann - mit allem Respekt vor
der Aufgabe - in meiner Kompetenz, die aus der Profession Pflege kommt und politisch
geachtet wird, einen Beitrag für eine sichere Versorgung dieser Gesellschaft zu
leisten. Na, wenn das nix is! Das ist eine sehr erfüllende Aufgabe zumindest in
der Perspektive. Inwieweit da zu den Ergebnissen kommt, die ich mir wünsche, das
bleibt abzuwarten. Aber ich bin ziemlich abgehärtet, was das angeht. Ich war
immerhin acht Jahre Präsident des Deutschen Pflegerates und da sind die Bäume
auch nicht in den Himmel gewachsen.
Herr
Westerfellhaus, was wollen Sie bis Jahresende bereits an Verbesserungen für die
Menschen in der Pflege, aber auch für Patienten und Pflegebedürftige erreicht
haben?
Dass
professionell Pflegende, Patienten, Angehörige und Bewohner das erste Mal
wieder sagen: Wir merken tatsächlich, dass etwas passiert. Die Maßnahmen, die
eingeleitet wurden, zeigen Wirkung und es steht spürbar Zeit für die Pflege in
allen Sektoren und in allen Alterssituationen zur Verfügung.
Und ganz persönlich gefragt: Wie sollen Sie einmal
in 20 Jahren umsorgt und gepflegt werden?
Die Vision ist, in 20 Jahren nicht pflegebedürftig
zu sein, sondern möglichst lange gesund zu sein. Und wenn das nicht so ist -
naja, dass ich in der Gesellschaft von Menschen bin, die mir Einsamkeit
ersparen und jederzeit ermöglichen, die Leistung, die die Profession Pflege
erbringt, auch genießen zu können.
Herr
Westerfellhaus, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Judith Hens.
Andreas Westerfellhaus hat sich von 2009 bis 2017 als Präsident des Deutschen Pflegerats dafür eingesetzt, dass Pflege eine stärkere Stimme in Politik und Gesellschaft bekommt. Nach zwei Amtszeiten gab der gelernte Krankenpfleger aus Rheda-Wiedenbrück dieses Amt turnusgemäß ab. Neben diesem Ehrenamt war er Geschäftsführer der Zentralen Akademie für Berufe im Gesundheitswesen in Gütersloh. Seit dem 16. April ist er der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung.